Wenn das eigene Kind geht
- biancastrub
- 7. Juli
- 5 Min. Lesezeit

Ich habe lange überlegt, ob ich das hier wirklich teilen will. Nicht, weil ich mich schäme. Ich habe mich nie gescheut, ehrlich hinzuschauen, hinzufühlen und Dinge auszusprechen, die andere lieber verschweigen. Aber es tut weh. Es geht tiefer, als Worte tragen können. Es ist ein Schmerz, der leise zerfrisst, unsichtbar für die Welt.
Denn was passiert, wenn das eigene Kind den Kontakt abbricht? Wenn genau das passiert, wofür es nicht einmal ein Wort gibt? Es ist ein Tabu. Es löst Scham aus. Es fühlt sich an wie Versagen – als Mutter, als Mensch. Und gleichzeitig weiss ich, dass ich nicht die Einzige bin. Es passiert. Viel öfter, als man denkt. Aber niemand redet darüber.
Vor vier Jahren hat mein Sohn den Kontakt zu mir abgebrochen. Und den Rest der Familie. Da war er sechzehn. Vorangegangen waren schwierige Jahre. Mit der Schule. In unserer Beziehung zueinander. Und seitdem ist da nur noch Stille. Keine Nachricht. Kein Anruf. Keine Antwort auf Briefe. Keine Reaktion auf Karten oder Päckchen zu Weihnachten, Ostern, Geburtstagen. Nichts. Über Umwege weiss ich, dass es ihm gut geht. Dass er seinen Weg macht. Und ja – das beruhigt mich. So sehr, wie es mich gleichzeitig innerlich zerreisst.
Gleichzeitig war da auch lange diese Erleichterung. So widersprüchlich das auch klingt. Erleichterung darüber, dass jemand anderes jetzt Verantwortung für ihn trägt. Dass ich es nicht mehr bin. Dass ich nicht mehr kämpfen muss, tagtäglich.
Aber die Zeit vergeht und anstelle der Erleichterung, dem zu Ruhe kommen, wird dieser Schmerz immer lauter. Dieser Verlust fühlt sich mehr und mehr an wie sterben. Eine Trauer, die nicht endet. Mal leiser. Mal lauter. Mal fast vergessen. Und dann wieder so präsent, als würde sie mich innerlich zerreissen. Eine Form von Resignation, die lähmt. Und trotzdem lebe ich irgendwie weiter, mit etwas, das eigentlich kaum auszuhalten ist.
Denn da bleibt eine Lücke, die nichts und niemand füllen kann. Diese Lücke läuft mit mir mit. Jeden Tag. Jede Nacht. Sie schläft nie. Und sie stellt immer dieselbe Frage, auf die es keine Antwort gibt: Was ist da eigentlich passiert? Wann ist es gekippt? Wo bin ich falsch abgebogen?
Lange habe ich geglaubt, wenn ich ihm immer wieder zeige, dass ich da bin – mit Briefen, mit kleinen Zeichen, mit Geschenken – dann wird er vielleicht irgendwann bereit sein, eine Tür wieder einen Spalt zu öffnen. Es muss nur genug Zeit vergehen. Dann wird er wieder wissen: Ich liebe dich. Ich bin hier. Ich warte. Aber nichts passierte. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich mich fragen musste: Tue ich das für ihn – oder tue ich das für mich? Halte ich fest, weil ich ihm damit wirklich helfe? Oder, weil ich es selbst nicht ertrage, ihn wirklich loszulassen?

Denn ehrlich: Es gibt Tage, an denen ist es kaum auszuhalten. Diese Unsicherheit. Dieses Nichtwissen. Geht es ihm wirklich gut? Trifft er gute Entscheidungen? Ist er glücklich? Oder fühlt er sich manchmal doch allein? Vermisst er mich manchmal? Denkt er noch an uns? An die Rituale, die wir hatten? An die gemeinsamen Abenteuer? An das, was einmal unsere Welt war? Sieht er überhaupt noch irgendetwas davon? Oder ist all das einfach weg? Ausgelöscht, als hätte es nie existiert?
Und dann ist da dieser Blick der Gesellschaft. Dieses unausgesprochene Urteil. Diese stummen Fragen, die wie Nadeln unter der Haut stecken: „Was hast du getan, dass dein Kind den Kontakt abgebrochen hat?“ Denn wenn ein Kind den Kontakt zur Mutter abbricht, dann muss man wohl etwas ganz Schlimmes getan haben. Dann steht man da, mit diesem unsichtbaren Stempel auf der Stirn: Versagt. Gescheitert. Unfähig. Eine Mutter, die ihr Kind verloren hat – ohne, dass es jemand laut ausspricht, aber alle denken es.
Und ja – da ist auch dieser bittere Neid. Ich sehe andere Mütter, die mit ihren Kindern Kaffee trinken, lachen, Fotos posten, Urlaube machen. Und in mir schreit es. Weil ich weiss, wie sich das anfühlt. Weil ich weiss, dass wir das auch mal hatten. Weil ich weiss, dass es das in meinem Leben nicht mehr gibt. Und vielleicht nie wieder geben wird. Mein Wunschkind. Meine grosse Liebe. Meine kleine grosse Welt.
Letzte Woche war seine Diplomfeier. Ich bin hingefahren. Habe gehofft. Gehofft, ihn wenigstens aus der Ferne zu sehen. Ein Blick. Eine Sekunde. Irgendetwas. Aber da war nichts. Kein Blick. Kein Moment. Nichts. Als wäre ich Luft. Als würde ich nicht existieren. Danach habe ich ihm einen Brief geschrieben. Habe ihm gesagt, wie stolz ich bin. Wie schwer die letzten Jahre für ihn gewesen sein müssen. Dass ich sehe, wie stark er ist. Und wie sehr ich mir wünsche, dass er glücklich ist.
Und wenig später erfahre ich über Umwege, dass es ihm gut geht. Richtig gut. Und weisst du, was das mit mir macht? Da ist diese Welle aus Schmerz. Aus Leere. Aus Verlassenwerden. Kein „Ich habe dich gesehen.“ Kein „Ich habe deinen Brief bekommen.“ Kein Wort. Einfach nichts. Als wäre ich aus seinem Leben ausgelöscht. Als hätte es mich nie gegeben.
Und trotzdem – irgendwo hinter all dem – ist da dieses leise Aufatmen. Er lebt. Es geht ihm gut. Und ja – das wünscht man sich als Mutter. Dass es dem eigenen Kind gut geht. Auch wenn man selbst daran zerbricht.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es egal ist, ob ich noch eine Rolle in seinem Leben spiele. Aber das wäre gelogen. Es ist nicht egal. Es wird nie egal sein. Er ist mein Sohn. Mein Kind. Ein Teil von mir. Und er wird mir immer fehlen. Da ist nichts, was diese Lücke schliesst. Nichts, was diesen Schmerz heilt.
Vielleicht ist das einfach die Realität. Vielleicht wird es nie wieder anders. Vielleicht hasst er mich. Vielleicht ist das der Preis für all das, was schiefgelaufen ist – egal, wie sehr ich es nie so wollte. Egal, wie sehr ich alles versucht habe. Vielleicht bedeutet Loslassen nicht, dass ich weniger liebe. Vielleicht bedeutet es einfach nur, dass ich seine Grenze akzeptiere. Auch wenn es sich anfühlt, als würde mir jemand jeden Tag das Herz herausreissen.
Vielleicht liest das hier jemand, der weiss, wie sich das anfühlt. Der diesen Schmerz kennt. Dieses Sterben bei lebendigem Leib. Diese Trauer, die nicht endet, weil sie keinen Abschluss findet. Mal lauter. Mal leiser. Aber immer da.
Ich habe keine Antwort. Keine Lösung. Nichts, was irgendwie leicht oder heil ist. Nur diese Wahrheit, die mich seit Jahren begleitet: Dass ein Teil von mir einfach verschwunden ist. Weg. Unsichtbar. Und trotzdem jeden Tag spürbar.
Und egal, wie still es geworden ist, wie leer – eines bleibt. Ich liebe ihn. Bedingungslos. Unverrückbar. Und das wird sich niemals ändern. Egal, ob er es weiss. Oder nicht.







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